Ent-Negativierung des Menschen

Neue therapeutische Zielsetzungen und Grundprinzipien

 

Emotionale Flexibilität bzw. Gefühlsflexibilität

Mit der Konzeption, körperliche Befindlichkeiten in Kontrasten zu beschreiben (angespannt/entspannt, hart/weich, locker/starr, leicht/schwer, weit/eng…) und dem Verlassen der Kategorie von positiv und negativ! (Ent-negativierung), lässt sich sehr genau benennen, was Gefühlsflexibilität ist. Sie liegt darin, hart oder weich sein zu können – wütend oder traurig – je nachdem was die Situation erfordert. Sich wütend-groß oder ängstlich-klein machen, je nach Bedarf. Menschen mit psychischen Problemen haben in der Regel ihre Gefühlsflexibilität verloren oder diese nie gehabt. Wer z.B. von Angst dominiert ist und keinen Zugang mehr zu Freude, Wut oder Traurigkeit findet, der ist emotional unflexibel. Dies betrifft die körperliche Ebene und gleichermaßen auch die gedankliche Ebene und natürlich auch dem folgend die Verhaltensebene. Dementsprechend ist der Zugang zu jeder Emotion wichtig, um insgesamt immer wieder in Balance zu kommen. Natürlich hat die Freude überragende Bedeutung, weil sie lockert, weitet und öffnet. Wem aber z.B. die Wut als grundlegende Bewegtheit nicht zur Verfügung steht, der wird sich nicht genügend Luft und Raum verschaffen können, der für eine Entfaltung erforderlich ist. Die Entwicklung jeder einzelnen emotionalen Bewegtheit ist entsprechend essenziell.

Es ist außerdem sehr anschaulich, die körperlichen Zustände und die Emotionen als Kontraste zu sehen.
Mit einer entnegativierten Kontrastierung und der grundlegenden Ent-Negativierung auch von Anspannung, Unruhe, Beschleunigung und Verengung ergeben sich äußerst wirkungsstarke neue Haltungen von Menschen zu sich selbst und zu anderen Menschen, die zum Gewinnung einer Gefühlsflexibilität beitragen.
Es ist äußerst befreiend für jeden Menschen, wenn er eine verständnisvolle und wohlwollende Haltung zu seiner körperlichen Anspannung, seiner Unruhe oder auch zu seiner Langsamkeit und Schwere einnimmt und nicht mehr dagegen ankämpft. Alle bekannten körperinteressierten Verfahren betonen das Erreichen von Ruhe und Entspannung. Der Blick in Richtung Entspannung kann hilfreich sein, jedoch besteht leicht die Gefahr, die Anspannung negativ zu sehen und dagegen anzukämpfen. In der Haltung der Achtsamkeit wird versucht, eine bewertungsfreie Haltung einzunehmen und die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Wenn Menschen es jedoch gewohnt sind, den körperlichen Zustand zu bewerten, so bewerten sie ihn jederzeit auf die ihnen vertraute Weise, und diese Bewertung sieht vor: Anspannung, Unruhe und Schwere sind negativ, so wie auch Angst, Wut und Traurigkeit.

Das „Prinzip der Gleichzeitigkeit” beschreitet deshalb einen völlig neuen Weg. Es sieht vor, dass es neben dem Zugänglich-machen von Entspannung, Ruhe und Weitung auch weiterhin Anspannung, Unruhe und eine Verengung der Wahrnehmung geben darf. Es darf also neben der Entspannung auch weiterhin Anspannung im Körper geben, und auch umgekehrt betrachtet darf es neben der Anspannung auch eine zumindest minimale Entspannung geben. Anspannung wird als notwendige Kraftquelle gesehen, Unruhe als berechtigte Veränderungssuche und Verengung der Wahrnehmung als erforderliche Fokussierung. Jedem bisher vermeintlich negativen Zustand soll mit größtem Wohlwollen und Verständnis begegnet werden. Mit dieser Haltung wird der Kampf des Menschen gegen sich selbst beendet, und jeder Mensch kann ganz tief zur Ruhe kommen. Mit der Gleichzeitigkeit von z. B. Anspannung und Entspannung – dem Wohlwollen gegenüber der Anspannung und dem Zugang zur Entspannung – wird ein Mensch vollständig. Deshalb kann man das Prinzip der Gleichzeitigkeit auch als Haltung der Vollständig-Werdung bezeichnen. Auf diese Weise wird das leider meist einseitig auf die Entspannung gerichtete Kontrasterleben des Jacobsen-Trainings ergänzt und vervollständigt.

Das „Prinzip der minimalen Freiheit” ergänzt das Prinzip der Gleichzeitigkeit in einem kleinen aber notwendigen Aspekt. Damit niemand meint, er müsse einer großen Anspannung eine ebenso große Entspannung entgegensetzen, ist es sehr wichtig, zu erkennen, dass es bereits ausreicht, einen minimalen Zugang zu Entspannung, zur Ruhe, zum Loslassen und zur Weitung der Wahrnehmung zu haben. Eine minimale Freiheit reicht aus, weil es nur darum geht, die Dominanz z. B. einer Verengung des Blickes oder einer Unbeweglichkeit aufzuweichen. Es reicht aus, wenn z. B. neben einer riesigen Anspannung eine winzige Entspannung ist, denn damit sind eine Veränderungsdynamik und auch ein Gleichgewicht da. Eine Waage ist bereits im Gleichgewicht, wenn die eine Waagschale nicht mehr auf dem Boden aufliegt. Bereits ein winziges Licht in einer großen Dunkelheit verändert alles.

Alles darf sein und der Blick auf alles soll wohlwollend sein. Das entspringt nicht einer beschönigenden Sicht oder einem „Reframing” von etwas schlechtem zu etwas gutem. Mit dem Verständnis der emotionalen Ausstattung, kann jeder die Logik, Bedeutung und Lebendigkeit jeder körperlichen Gestimmtheit erkennen und die negative Sicht auf sich selbst fällt ab wie eine kranke und falsche Haut.