Die Mythen von „Bildung“, Sigmund Freud, Hollywood, Psychiatrie, Pharmaindustrie und Religion
Anlässlich der Frage, was denn unsere Werte und unsere „Leitkultur“ ist, die wir hochhalten und verteidigen müssen, ist die „Meinungsfreiheit“ vermutlich der wichtigste Wert.
So wird das auf jeden Fall von Buchautoren wie Hamed Abdel-Samad oder Salman Rushdie empfunden, wenn sie auf der Buchmesse in Frankfurt nur unter Sicherheitsvorkehrungen das tun konnten, was jeder Menschen können sollte: Seine Gedanken und seine Gefühle auszudrücken.
Nun ist es allerdings so, dass es gar nicht so einfach ist, eine „Meinungs-Freiheit“ zu haben. Der Ausdruck, über etwas „nachdenken“ zu müssen, beschreibt bereits das Dilemma. Meist denken wir allenfalls das „nach“, was andere vor-gedacht haben. Jeder Mensch bewegt sich weitgehend in bestimmten Denkmustern und Denktraditionen. Menschen haben Überzeugungen und verfestigte Sichtweisen. Etwas „Neues“ zu denken oder zumindest seine Perspektive zu wechseln, erfordert bereits eine gewisse Breite des Wissens. Die Flexibilität im Denken basiert auf einer größeren Informationsbasis, was man auf neuronal-kortikaler Ebene als Vernetzungsvielfalt oder komplexe Verschaltung beschreiben könnte. Das Gehirn ist ungeheuer plastisch und der Mensch damit überaus lernfähig. Wenn nun ein Mensch mit Meinungsvielfalt und überhaupt mit Informationsvielfalt aufwächst, so ist zu erwarten, dass ein solcher Mensch auch leichter abweichende Meinungen und Sichtweisen einnehmen kann. So weit so gut, denn das hört sich so an, als ob unsere westliche Welt eine bessere sei.
Sie ahnen richtig, dass nun ein dickes „Aber“ kommt, denn leider gibt es unzählige moralische, religiöse und hollywoodverseuchte Vorstellungen, die uns zu Vorurteilen führen. Ein „Vor-Urteil“ ist ein Urteil „vor“ jedem nachdenken. Alles Denken was dem Vor-Urteil folgt ist verengt, gefangen, unflexibel und unfrei. Damit ist es schon vorbei mit der „Freiheit“ von Meinung und Denken. Betrachten wir doch einmal ein paar typisch westliche Vorannahmen, irrtümliche Denktraditionen und Mythen.
Da ist die Vorstellung von „gut“ und „böse“, die dazu führt, dass wir z.B. auch die Emotionen in positive und negative einteilen und davon ausgehend Traurigkeit, Angst und Wut nicht haben wollen und deshalb auch nicht lernen können mit ihnen umzugehen. Die Angst wird von der Medizin sogar zu einer „Störung“ stilisiert, die man medikamentös austreiben will, obwohl lediglich der Umgang mit der Angst „gestört“ ist. In Wahrheit ist die Angst ein gesamtkörperliches Reaktionsprogramm, das die Grundlage von u.a. Sorge, Fürsorge, Vorsicht und Sensibilität bildet.
Aus der Vorstellung des „Bösen“ und den „Mythen des Sigmund Freud“ resultieren auch die unzähligen Unterstellungen, was angeblich einen Menschen an-„treibt“: Macht und Narzissmus.
Das möchte ich nun klarstellen: „Macht“ wollen Menschen nur, um etwas in ihrem Sinne beeinflussen zu können. Wer der entscheidende Veränderer ist, erntet schließlich auch die Lorbeeren und die Wert-Schätzung. Was ein Mensch dabei gewinnt, ist vor allem ein entspannter Gefühlzustand, den man Freude nennt. Wenn ein Mensch als wertvoll eingeschätzt wird, so sinkt damit die Gefahr, dass er ausgeschlossen wird. Ausschluss aus der Gemeinschaft war über hundertausende von Jahren hinweg gleichbedeutend mit einem Todesurteil und auch heute noch ist die Isolation die größte Bestrafung eines Menschen. Wir Menschen suchen also in Wahrheit den Zustand der Freude, der im Zusammenhang mit einer Wert-schätzung sogar zum umfassenden Selbst-Wert-Freude-Gefühl reifen kann.
Aber allein das „Trieb“-konzept von Freud und seine Botschaft, dass wir Menschen „Getriebene“ seien, ist schon falsch und spottet der menschlichen Fähigkeit, sich selbst z.B. in seiner körperlichen Reaktion „Angst“ wahrzunehmen und dies auch beeinflussen zu können. Ja, sie haben richtig gelesen, körperliche Zustände sind veränderbar durch uns selbst. An sich banal für jeden Menschen, der Entspannungsübungen macht oder meditiert. Dass die emotionalen Bewegtheiten von Freude, Traurigkeit, Wut oder Angst auch veränderbar sind, ist allerdings für die meisten Menschen überraschend. Sogar Eckhart von Hirschhausen stellt überrascht fest und hält es für eine neue Erkenntnis, dass „Glück“ durch Übung erreicht werden kann. Wenn wir einmal den überhöhten Glücksbegriff herunterbrechen auf das was er ist – nämlich der Zustand der Freude, so ist das geradezu banal. Freude ist ein Zustand, in dem die Muskeln locker sind, wir in der Beweglichkeit gut Luft holen können und unsere Wahrnehmung in die Breite geht und auch in die Weite schweifen kann. Alles Parameter, die man üben kann. Wenn die Menschheit sich also bisher als Getriebene ihrer Emotionen betrachtet und nicht einmal weiß, dass Freude, Traurigkeit, Wut und Angst spezifische ganzkörperliche Zustände sind, so gibt es nicht einmal einen Einfluss von Menschen auf sich selbst und ihr Verhalten.
Die meisten Frauen sind ängstlich ohne es zu wissen. Es ist nicht schlimm, dass sie ängstlich sind, aber schlimm wenn sie es nicht wissen und damit nicht umgehen können. Wenn ein Mensch den Einfluss von Angst, Wut, Traurigkeit und Freude auf seine Wahrnehmung nicht kennt, so ist er in der Tat doch leicht ein Getriebener seiner Emotionen. Die wenigsten Menschen und leider auch die wenigsten Psychiater wissen, dass Angst die Wahrnehmung eines Menschen erheblich beeinflusst und Menschen in einem ängstlichen Körperzustand auch mehr Bedrohliches in der Umgebung erkennen. Für die meisten Psychiater ist das paranoid.
Es war und ist evolutionär bedeutsam, in bestimmten Momenten achtsamer zu sein und alle Bedrohlichkeiten zu erfassen, die durch Gerüche, Geräusche und vor allem durch andere Menschen ausgehen. Ein Mensch, der nicht weiß, wie sehr seine Wahrnehmung, sein Denkverlauf und seine Beurteilungen durch Angst, Wut, Freude und Traurigkeit beeinflusst werden, der unterliegt erheblichen Fehleinschätzungen. Es kommt also darauf, einem Menschen beizubringen, dass er z.B. im Zustand der Angst mehr Bedrohliches sieht und auch in seine Umgebung hineininterpretiert und es deshalb nötig ist, seine Beurteilung der Bedrohlichkeit herunterzurechnen. Das ist absolut erlernbar und es ist nicht nötig, z.B. eine Schizophrenie zu diagnostizieren und wegen der paranoiden Wahrnehmung den Menschen selbst für unzurechnungsfähig einzustufen.
Die Denktradition der Psychiatrie ist so gefangen in ihrer Pathologisierung und der folgenden Medikamentisierung von Menschen, dass sie die Normalität und Logik der Wahrnehmungsveränderung durch den emotionalen Zustand nicht erkennt. Ein Medizinstudent hört keine Vorlesungen über Wahrnehmungspsychologie und so kann er auch nichts anderes denken als was ihm vorgedacht und nahegelegt wird.
Um eine Meinungsfreiheit oder eine Beurteilungs“freiheit“ zu haben, wird ein möglichst großes Bewusstsein benötigt aber wer hat das schon. Wir sehen nur das, von dem wir ein Konzept haben.
Wir Deutschen haben offensichtlich eine größere Vorstellung von Vertreibung und Unterdrückung als andere und können entsprechend einfühlsamer mit denen sein, die solches erfahren. Bewusstsein macht einfühlsam.
Seit Jahren wird von allen Politikern gefordert, dass sich etwas „bilden“ soll und dass die „Bildung“ ja so ungeheuer wichtig sei. Fragt sich, was sie damit meinen – was soll sich eigentlich „bilden“?
Sollen Menschen mehr Wissen „bilden“ und anhäufen? Sollen sie die Fähigkeit von Lesen und Schreiben herausbilden?
Was ist denn mit der emotionalen Entwicklung und der Bildung von Beziehungsfähigkeit? Diesbezügliches Wissen wäre gut, doch gibt es in der Schule nicht einmal das Fach „Psychologie“ sondern nur den Sexualkundeunterricht als winzigen Baustein der Biologie. Dabei ist sexuelle Erregung nur eine unspezifische Bewegtheit, in der noch keine Zuwendungsqualität liegt.
Was emotionale Entwicklung ist, darüber besteht bisher nicht einmal ein Konzept.
Warum muss „Beziehungsfähigkeit“ nicht gefördert werden? Weil das göttliche Gefühl der „Liebe“ uns ja angeblich bereits „gut“ macht? Seltsam nur, dass die Hirnforschung bisher die Liebe als körperlichen Zustand nicht gefunden hat. Jeder weiß nun allerdings durch Pete Docters Film „Die Welt steht Kopf“ – nicht etwa durch die psychologischen Fachzeitschriften! – was unsere Grundbewegtheiten sind: Freude, Traurigkeit, Angst und Wut. Jedenfalls nicht Liebe und Haß.
Was ist Beziehungsfähigkeit? Es ist die komplexeste Fähigkeit des Menschen und sie umfasst alle Fähigkeiten des Menschen, emotional und gedanklich mit anderen Menschen anzuknüpfen. Offenheit ist nicht genetisch determiniert sondern das Ergebnis von ganz viel erfolgreicher zwischenmenschlicher Bezugnahme. Kinder müssten darin geschult und gefördert werden, wie sie mit sich selbst und ihren Emotionen umgehen und wie sie die Bewegtheiten von Freude, Traurigkeit, Wut und Angst als Beziehungswerkzeuge nutzen und auch wie sie diese in ihren Gefahren entschärfen. Ohne die Tiefe des Verstehens, was sich eigentlich „bilden“ müßte, sind die Forderungen aller Theoretiker nach „Bildung“ einfach lächerlich, wie es sich auch in den Ergebnissen der Pisastudie zeigt. Deutschland vermehrt sich nicht einmal mehr sondern die Menschen werden zu aussterbenden Singularitäten, weil bisher niemandem beigebracht wird, wie Menschen sich erfolgreich gedanklich und emotional aufeinander beziehen können. Die verbreiteten Meinungen bezüglich der Emotionen sind ein einziges Gruselkabinett für jeden guten Psychotherapeuten: Tränen müssen weggewischt werden, Angst sei eine Krankheit, das Brauchen eine Schwäche, Traurigkeit sei „Schmerz“ und ansonsten schwanken wir ohnehin nur noch zwischen Manie und Depression, wenn man sich die explodierenden Diagnostizierungen anschaut. Es gibt keine Gesundheit mehr, wir müssen alle Pillen schlucken und der Mensch ist grundlegend dabei zu degenerieren, weil Depression ja angeblich eine körperliche Erkrankung ist, so wie auch Angst und Aufmerksamkeitsstörung.
Die milliardenschweren Studien der Pharmaindustrie schaffen eine Krümmung im Raum-Zeit-Gefüge und ein schwarzes Loch, das alle normalen logischen Erklärungen, wie beim Menschen Denken, Fühlen, Brauchen und Wahrnehmen zusammenhängen, verschluckt.
Gottlob haben wir zumindest das Recht auf Meinungsfreiheit aber eine „Freiheit“ der Meinung haben wir noch lange nicht erreicht, weil wir in den seltsamsten Vorstellungen und Denktraditionen festhängen und verengt sind. Diese auszuführen erfordert ein dickes Buch. Ich habe es geschrieben.
Am besten wir sagen das mit der „Meinungsfreiheit“ ganz leise und bescheiden und verweisen darauf, wie beschränkt wir selbst in unserer Sicht sind. Dann laden wir auf diese Weise die Menschen aus anderen „Kulturen“ dazu ein, ihre eigenen Wahrnehmungs- und Denkbeschränktheiten zu erforschen, die zugegebenermaßen eventuell noch größer sind als die unsrigen.