Schluss mit der Inflation des Fühlens
Schon seit Jahrhunderten wird behauptet, der Homo Sapiens (die Gattung Mensch) sei zu besonderen Gefühlen in der Lage. Als Krone der Schöpfung sei der Mensch ja sogar zu dem Gefühl in der Lage, das uns nahezu göttlich macht: der Liebe. Es wird weltweit geglaubt, dass ein Mensch, der zu diesem Gefühl in der Lage sei auch ein guter Mensch sein müsse und unter diesem Gefühl nur noch zu guten Taten bewegt würde. Wenn ein Mann z.B. behauptet, seine Frau oder seine Kinder zu „lieben“, so wird als wahrscheinlich angenommen, dass er sich auch gut auf diese beziehe. Jemand, der sagt, er würde „lieben“ muss ja auf jeden Fall in Richtung des „Guten“ bewegt sein, so die allgemeine Auffassung. Wenn dieser gleiche Mann jedoch seine Frau abwertet und sein Kind schlägt, so erzeugt das große Verwunderung. Wenn ein Mann einer Frau sagt, „er liebe sie“, so sind die meisten Frauen sehr lange bereit, die schlechteste Bezugnahme hinzunehmen.
Was ist jedoch, wenn dieses göttliche Gefühl gar nicht existiert? Was ist, wenn wir Menschen einfach nur denkende Säugetiere sind, die durch die außerordentliche Kapazität des Neokortex zu Vorstellungsfähigkeit und Selbstwahrnehmung in der Lage sind?
Wenn wir „nur“ denkende Säugetiere sind, die in der Lage sind, sich über ihre Vorstellungen auszutauschen und die es vermögen, ihren körperlichen Zustand wahrzunehmen und sich darüber gegenseitig Rückmeldungen zu geben, so wäre vieles einfacher. Warum? Weil Liebe klar definiert werden könnte als zwischenmenschliche Bezugnahme auf drei Ebenen: gedanklich, emotional und körperlich.
Jedem wird es auffallen, dass hier das ominöse Wörtchen „emotional“ gefallen ist und in diesem Wörtchen könnte ja das Gefühl der Liebe mit drinstecken. Der inflationäre Gebrauch des Wörtchens „emotional“ kann jedoch nicht mehr darüber wegtäuschen, dass es grundlegende körperliche Gefühlszustände gibt. Was ist, wenn es unsere Muskeln sogar nur erlauben, angespannt oder entspannt zu sein und unser Körper insgesamt nur aufgerichtet oder zusammengesunken sein kann? Dann müssten wir uns davon verabschieden, göttliche Wesen zu sein.
Die Sache wird jedoch noch brisanter. Es wird ja behauptet, das Gefühl der Liebe erzeuge eine Bindung und der Mensch sei ein monogames Wesen wie z.B. auch der Spatz. Was ist jedoch, wenn wir vor allem informationsverarbeitende Wesen sind und als Spezies erfolgreich, weil wir besonders gut untereinander Informationen austauschen können? Was ist, wenn das, was wir als „Liebe“ benennen eigentlich nur in besonders gutem Austausch von Informationen besteht? Monogamie wäre unsinnig, denn sie würde uns an dem hindern, was uns ausmacht: Informationsaustausch auf gedanklicher, „emotionaler“ und körperlicher Ebene und dies möglichst intensiv und möglichst häufig.
Was können wir nun aber wirklich fühlen? An dieser Stelle muss ich als Emotionsforscher und Psychotherapeut ein Geheimnis lüften: Es gibt nur vier grundlegende körperliche Bewegtheiten: zwei, die uns beschleunigen und entweder groß oder klein, mutig oder vorsichtig machen: Wut und Angst und zwei, mit denen wir zwischenmenschlich zum Ausdruck bringen, dass uns etwas fehlt oder das etwas erfüllt wird: Traurigkeit und Freude. Während die beiden säugetiergeschichtlich alten, groben und überlebensrelevanten Emotionen Wut und Angst uns verengen, fokussieren und „stressen“, werden wir von den beiden neuen und feineren Emotionen Freude und Traurigkeit eher entschleunigt und geweitet und zu Bedächtigkeit und Offenheit geführt, also auch zu besserer Informationsverarbeitung.
Natürlich gibt es neben Wut, Angst, Freude und Traurigkeit auch noch sexuelle Erregung, Hunger, Müdigkeit und Schmerz. Das wars aber auch schon. Der Gebrauch des Wortes „Fühlen“ ist schon lange inflationär, weswegen ja auch von einem „Ge-fühle“ gesprochen wird, also einem unüberschaubaren Rumgefühle. Menschen „fühlen“ sich ja sogar getäuscht oder überrumpelt. Dabei liegt jeder unserer Beschreibungen, jedem unserer „Gefühle“ eine der vier grundlegenden ganzkörperlichen Bewegtheiten Freude, Angst, Wut oder Freude zugrunde. Ärger, Zorn, Gereiztheit, Empörung, Sturheit usw. sind z.B. nur kontextbedingte Bezeichnungen ein und desselben körperlichen Zustandes: der Wut.
Menschen sollte sich niemals von dem abhalten lassen, was die größte Freude bringt bzw. bei dem wir auf allen Ebenen unseres Seins angesprochen werden: der zwischenmenschlichen Bezugnahme. Es ist unsinnig, Menschen die größtmögliche Offenheit im Gefühls-, Gedanken-, und Körperaustausch zu verbieten.
Aber nun zu einer noch viel größeren Brisanz: Wenn wir also auf vier mögliche Arten ganzkörperlich bewegt werden, was ist dann mit dem Mit-Gefühl? Dann ist ja Mit-Gefühl kein eigenes Gefühl sondern es gäbe ja nur ein Mit-Fühlen als ängstliches, trauriges, freudiges oder wütendes Mit-Fühlen. Wenn nun also die ganze bisherige Bindungsforschung und die vielen schlauen Aufsätze über unser Menschsein noch gar nicht beachtet haben, dass es nur diese vier Formen des Mitfühlens geben kann, so müssen ja die Aussagen, die alle Menschen bisher über das Mit-Gefühl gemacht, sehr ungenau und oberflächlich gewesen sein. Wenn nun außerdem noch drei der vier grundlegenden Bewegtheiten als negativ angesehen werden, so schließt es sich sogar aus, dass Menschen miteinander mit-fühlend umgehen, weil sie das entsprechende Gefühl eines Gegenübers (Wut, Angst, Traurigkeit) gar nicht haben wollen.
Nun komme ich zur unglaublichsten Brisanz. Die negative Bewertung von den drei grundlegenden Bewegtheiten Angst, Traurigkeit und Wut führt seit Jahrzehnten dazu, dass Menschen gegen ihre eigenen Gefühle und die ihrer Mitmenschen kämpfen. Dieser Kampf des Menschen gegen sich selbst, ist der Grund für jede emotionale Nichtentwicklung und in der Folge die Ursache aller psychischen Störungen. Mit der Kenntnis der Emotionen eröffnet sich ein Verstehen, was emotionale Entwicklung ist und worin emotionale Unentwickeltheit besteht: in einer Unfähigkeit, mit seinen Emotionen umzugehen. Dieses Unvermögen besteht konkret darin, die Emotionen in ihrem Potenzial nicht zur Entfaltung bringen zu können und in ihren Gefahren nicht entschärfen zu können. Das Potenzial der körperlichen Bewegtheit Wut ist z.B. Entschlossenheit, Direktheit, Kraft und Deutlichkeit und die Gefahren der Wut sind u.a. Gewalt, Übertreibung, Schwarz-Weiß-Denken, Abwertung und Egoismus. Die körperliche Aktivierung der Wut an sich ist nicht negativ oder positiv, es kommt darauf, was man mit dieser Muskelkraft macht. Es ist also eine Kultivierung des Emotionalen erforderlich, die es bisher nicht gab und nicht geben konnte, weil die Menschheit in zunehmender Agonie durch ihre unselige Bewertung von „gut“ und „schlecht“ verblendet und gefangen war und außerdem ein scheinbar unüberschaubares „Gefühle“ zu existieren schien.